Waldlandgeschichten

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Siri und das Flüstern der Wälder


Im grünen Herzen des Waldes lebte einst eine schwarze Hündin, sie hatte ein Auge wie Bernstein und das andere wie ein Stück eisblauen Himmels. Ihr Name war Siri. Scheu wie der Nachtschatten im Licht hatte sie keine guten Erfahrungen mit Menschen gemacht. Von klein auf war sie eingesperrt worden und sie wurde immer wieder schlecht behandelt....bis sie davon lief....tief in den Wald hinein...

Sie war nicht gewöhnlich, denn sie hatte eine Gabe....sie verstand das Rauschen der Bäume und das sanfte Kichern der Schmetterlinge und das Duften der Blumen. Jeden Morgen machte sie ihren Rundgang durch die Waldlichtung, schnupperte an den moosigen Wegen und grüßte die Vögel mit wedelnden Schwanz.

Eines Tages , als die Sonne die Wiesen morgens durchflutete, hörte Siri ein leises Weinen. Es kam aus einen alten Brombeerbusch. Vorsichtig schob sie sich durch und da saß ein kleiner Wichtel mit zerzausten Hut und tränen nassen Wangen. "Was ist los?" fragte Siri sanft."Der Baum des Gleichgewichts ist krank," schniefte der Wichtel. Wenn er fällt, verlieren die Tiere ihre Wege, die Blumen ihr Licht und der Bach hört auf zu singen."

Siri legte ihre Pfote behutsam auf den Boden...sie spürte es...die Erde zitterte vor Sorge. "Ich helfe dir,"sagte sie fest.


Der Weg zum Baum des Gleichgewichts


Siri trat aus dem Brombeerbusch, in ihrem Herzen der Entschluss, dem kleinen Wichtel zu helfen. Er hieß Brim und zitterte noch, als er sich auf ihren Rücken kletterte. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum uralten Baum des Gleichgewichts, der tief im verwunschenen Teil des Waldes stand – dort, wo kaum ein Tier je wagte, allein zu gehen.

Der erste Abschnitt führte sie durch das Nebelmoor, ein sumpfiger, flüsternder Ort, in dem der Boden unter den Pfoten bebte und Irrlichter zwischen den Gräsern tanzten. „Lass dich nicht von ihnen rufen“, wisperte Brim. Doch Siri hörte lieber auf das Murmeln des Mooses, das ihr leise den sicheren Pfad zeigte. Am Ende des Moors trafen sie auf eine alte Kröte, deren Augen golden wie Abendlicht funkelten. Sie sprach: „Nur wer sich selbst vertraut, kommt durch das Schattenholz.“

Im Schattenholz war es finster wie in einem tiefen Traum. Die Bäume standen dicht beieinander, ihre Äste wie knochige Finger. Plötzlich knurrte es – zwei Augenpaare blitzten aus der Dunkelheit: Wildwölfe. Doch Siri trat mutig hervor, den Schwanz erhoben, das Herz still wie der Morgennebel. Sie sprach mit ruhiger Stimme, wie die Bäume es sie gelehrt hatten. Die Wölfe neigten die Köpfe. „Du trägst den Klang des alten Waldes“, sagte einer. „Du darfst passieren.“

Weiter ging es über einen glitzernden Bach, auf dessen Steinen Libellen tanzten. Am Ufer wartete der kluge Uhu, sein Gefieder gesprenkelt wie Sternenstaub. „Der Baum braucht neue Wurzeln“, sagte er. „Nimm diesen silbernen Samen. Pflanze ihn tief in das Herz der Wurzelhöhle, und wache sieben Nächte über ihn.“

Mit dem Samen in der Pfote erreichte Siri schließlich den Baum des Gleichgewichts. Er war groß wie ein Berg und still wie das Ende des Sommers. Seine Rinde war grau geworden, und aus seinen Zweigen rieselten Blätter wie vergessene Gedanken. Vorsichtig grub Siri ein Loch zwischen den Wurzeln, bettete den Samen hinein und legte sich davor.

Die Nächte waren lang. Der Wind sang Lieder, die Sterne wachten mit ihr. In der dritten Nacht kam ein Fuchs mit feuerrotem Fell und sagte: „Gib nicht auf. Der Wald atmet mit dir.“ In der fünften Nacht sangen Nachtfalter ein leises Lied, das selbst die Wurzeln berührte. Und in der siebten Nacht – als der Mond voll über dem Wald stand – brach durch das Erdreich ein junger Trieb: grün wie Hoffnung, zart wie ein Versprechen.

Der Baum erwachte.

Seine Zweige hoben sich leicht, als würde er wieder atmen. Das Licht kehrte in den Wald zurück. Blumen begannen zu blühen, der Bach sang ein neues Lied, und die Tiere jubelten.
Siri kehrte heim, müde, aber erfüllt. Sie rollte sich in ihr weiches Grasbett und träumte – von leuchtenden Pfaden, von Mut, von Freundschaft und der Sprache der Erde.

Seitdem sagen die Tiere: „Wenn dein Herz zuhört, zeigt Siri dir den Weg.“


Die Erinnerung im Wind


Viele Monde waren vergangen, seit Siri den Baum des Gleichgewichts gerettet hatte. Der Wald blühte, die Tiere erzählten ihre Geschichte in Liedern, und auf den moosigen Steinen der Lichtung leuchteten ihre Spuren – wie Tautropfen, die nie verdampften.

Doch in manchen Nächten, wenn der Wind aus dem Osten kam und die Sterne besonders klar am Himmel standen, erinnerte sich Siri an die Zeit vor dem Wald.

Damals war sie klein gewesen, kaum größer als ein Fuchsjunges. Sie lebte eingesperrt in einem dunklen Verschlag am Rand der Menschenwelt. Die Luft war stickig, die Stimmen laut, und es roch nach Angst und Eisen. Ihre Tage bestanden aus Angst, ihre Nächte aus Stille. Kein Vogel sang, kein Blatt flüsterte. Und niemand hatte ihr je einen Namen gegeben. Sie war einfach: da.

Bis zu dem einen Tag – der Tag, an dem sie sich entschied, nicht länger zu warten. Etwas in ihr erwachte. Etwas Starkes. Sie brach aus. Rannte, rannte, rannte. Durch Gärten, über Straßen, unter Zäunen hindurch, bis der Lärm der Menschen versank und das erste Blatt unter ihrer Pfote knackte.

Der Wald hatte sie aufgenommen, so wie man einen verlorenen Vers findet – vorsichtig, aber voller Staunen. Und dort hatte sie ihn zum ersten Mal gehört: den Ruf. Zart wie ein Hauch, doch voller Bedeutung. „Siri“, hatte der Wind gesagt, „Siri.“

Das war ihr Name geworden. Und mit dem Namen kam die Erinnerung an etwas Größeres: Dass sie nicht nur gerettet wurde – sondern selbst retten konnte.

Seither wurde sie zur Legende.

Die Eule erzählte von ihr in den Nächten der Entscheidung. Die Rehe flüsterten ihren Namen, wenn ein Junges krank wurde. Und die Füchse sagten ihren Kindern: „Lass das Herz lauschen. Vielleicht zeigt Siri dir den Weg.“

In einer besonders stillen Nacht, als die Sterne wie Feuerfunken tanzten, erschien eine neue Hündin auf der Lichtung. Noch jung, mit Narben an den Pfoten und der Angst in den Augen. Siri trat zu ihr, sagte kein Wort – sie legte nur ihre bernsteinblaue Schnauze an ihre Stirn. Und der Wind sprach wieder.

Der Wald hatte ein neues Herz gefunden.


Der Winter, der keinen Namen trug


Der Herbst verließ den Wald leiser als sonst. Die Blätter fielen früh, als würden sie fliehen, und die Nebel lagen schwer über den Bächen. Die Tiere spürten es zuerst in den Pfoten, dann im Herz: Etwas stimmte nicht.

Siri aber schwieg.

Sie wanderte jeden Tag weiter hinaus, bis zu den Grenzen des Waldes, wo die Bäume nicht mehr flüsterten und der Boden hart wurde. Ihr Blick war nachdenklich geworden, ihre Augen – das bernsteinfarbene und das eisblaue – blickten manchmal in eine Ferne, die keiner sehen konnte.

In der letzten Nacht des späten Herbstes schloss sich der Himmel wie ein dunkler Mantel über den Wipfeln. Kein Stern funkelte. Kein Windhauch regte sich. Die Tiere fanden sich auf der Lichtung ein, suchten Siri – doch die Wiese war leer. Nur ein einzelner, silbriger Pfotenabdruck glänzte dort, wo sie stets geschlafen hatte.

Siri war verschwunden.

Ein sonderbarer Winter begann. Er war nicht kälter als andere, aber stiller. Die Vögel sangen seltener. Der Bach murmelte nur noch in halben Versen. Und die kleinen Tiere rückten näher zusammen, erzählten sich Geschichten von Siri, um das Licht nicht ganz zu verlieren.

Der Wichtel Brim – inzwischen ein Alter mit Bart wie Wurzelfilz – sagte: „Legenden gehen nicht. Sie verwandeln sich.“

Und tatsächlich, in manchen Nächten, wenn der Schnee glitzerte wie Lichtstaub, konnten die Tiere eine schwarze Gestalt am Waldrand sehen. Sie sagte nichts, ging nicht näher – aber ein warmer Wind zog durch die Bäume, und man hörte für einen Augenblick das Lachen der Schmetterlinge.

Im Frühling kam ein neues Flüstern.

Die Blumen, die auf der alten Lichtung wuchsen, hatten eine neue Farbe – tiefgrün mit silbernen Spitzen. Die Bäume raunten leise Lieder, und auf einem Baumstamm fand sich eingeritzt:

„Wenn du verloren bist – erinnere dich. Siri ging nicht fort. Sie ging voraus.“


Luthien, das neue Wesen


Der Frühling kam langsam. Zögernd. Als müsste die Welt erst wieder lernen, wie Hoffnung klingt. Doch mit jedem Sonnenstrahl, der sich durch das Geäst tastete, mit jedem Samen, der sich aus der Erde reckte, atmete der Wald ein Stück mehr auf.

Und eines Morgens geschah es: Ein kleines Wesen stand auf der Lichtung.

Sie war kein Mensch – aber auch kein Tier. Ihr Fell war weich und dunkel wie frischer Waldboden, und in ihren Augen lag etwas, das die Tiere sofort verstummen ließ: Das eine Auge war golden wie Bernstein–das andere eisblau, wie der Morgenhimmel.

Ihr Name war Luthien. Niemand hatte ihn ihr gegeben – der Wind hatte ihn gebracht, in einer Nacht voller Eulenrufe und flüsternder Sterne.

Die Tiere hielten den Atem an.

War sie Siri? Oder etwas Neues?

Der alte Uhu, weise und grau wie Rinde, sprach leise: „Nicht Siri. Aber sie trägt ihre Seele.“

Luthien war noch jung, doch sie bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit, als kenne sie jeden Baum, jeden Stein, jede Wurzel. Sie sprach nicht – sie lauschte. Dem Gras, dem Bach, dem Wispern in der Erde.
Am Abend ihres ersten Tages legte sie sich auf das Moos der alten Lichtung – genau dort, wo einst Siri geschlafen hatte. U nd als sie ihre Stirn auf den Boden legte, flackerte der Wind auf wie ein flüchtiger Gedanke.

Der Baum des Gleichgewichts, der alles sah, ließ ein neues Blatt wachsen – eins mit einer silbernen Ader.

Brim, der uralte Wichtel, sah es mit tränenden Augen. „Sie ist gekommen“, flüsterte er. „Nicht um Siri zu ersetzen. Sondern um den Weg weiterzugehen.“

Seither war Luthien das neue Herz des Waldes.

Wo sie lief, heilten alte Pfade. Wo sie schwieg, sprachen andere. Und wo sie träumte, begannen die Sterne zu tanzen.

Und manchmal, in ganz stillen Nächten, sah man zwei geisthafte Gestalten auf der Lichtung – eine große schwarze Hündin und ein junges zartes Wesen.


Luthiens erstes Lichtfest


Der Sommer näherte sich, und die Nächte wurden lauer. Der Bach sang wieder in ganzer Stimme und selbst der alte Uhu wirkte leichter, wenn er in der Dämmerung durch die Baumkronen glitt.

Luthien saß oft still am Rand der Lichtung, wo das Gras am höchsten wuchs und die Käfer leise Geschichten summten. Dort hatte sie begonnen kleine Kreise aus Steinen zu legen – keine besonderen Steine, doch jeder schien an dem Platz zu leuchten, den sie ihm gab.

Brim, der Wichtel, der nun ein wenig krummer ging, betrachtete sie aus dem Schatten der Kupferfelsenbirne. „Was tust du da, Kind?“

Luthien schaute ihn an.„Ich bereite ein Fest vor. Für das Licht und für Siri.“

Brim schwieg lange. Dann setzte er sich ins Gras, sein Hut rutschte ihm über ein Ohr. „Ein Fest für jemanden, der nicht mehr hier ist?“ Luthien lächelte. „Sie ist hier. Immer, wenn ich still bin. Immer, wenn die Bäume sich erinnern.“

Am Abend des längsten Tages begann das Fest.

Sie entzündete kein Feuer – das brauchte es nicht. Die Glühwürmchen kamen von selbst, wie kleine Seelen, die ihren Platz kannten. Die Tiere erschienen in Stille, selbst die scheuen. Eine Rehfamilie, eine Drossel, ein alter Igel mit eingerolltem Ohr, sogar zwei Füchse, die sich sonst nie zusammen zeigen.

Luthien stellte nichts in die Mitte, kein Thron, kein Zeichen. Nur eine Muschel in der ein Tropfen Morgentau lag. „Das ist Siris Herz“, sagte sie leise. „Und heute feiern wir, dass es weiter schlägt.“

Dann sang sie.

Es war kein Lied mit Worten. Es war ein Ton, der aus dem Boden kam, aus den Ästen, den Adern der Pilze. Und alle fühlten es.

Sie fühlten das erste Licht. Das erste Laufen über weiches Moos. Die erste Umarmung aus Wind. Das erste „Du bist nicht allein.“

Der alte Uhu ließ eine Feder fallen – weiß, mit goldener Spitze. Brim weinte still. Und in der Ferne, wo die Bäume am ältesten waren, leuchtete ein einzelner silberner Stern – am Boden, nicht am Himmel.

Es war Siris Spur.

Und Luthien, das Wesen mit den ungleichen Augen, trat hinein – nicht um zurückzugehen, sondern um weiterzugehen.

Seit jener Nacht feiern die Tiere das Lichtfest. Nicht jedes Jahr. Nur dann, wenn die Welt es braucht. Und sie sagen: „Wenn du glaubst, es sei zu dunkel – dann erinnere dich: Irgendwo legt Luthien gerade einen Stein im Kreis.“

Luthien und der Fall aus den Wolken

Es war Spätsommer, die Zeit in der die Tage beginnen länger zu blinzeln, als wollten sie sich nicht verabschieden. Die Brombeeren waren reif, die Ebereschen trugen Feuer in ihren Beeren und über dem Wald lag ein warmes, fast träges Summen.

Luthien wanderte schweigend am Rand des alten Hochmoors entlang, wo der Himmel groß ist und das Gras wie silbernes Haar im Wind tanzt. Sie suchte nicht – sie lauschte.

Und plötzlich war da ein Laut. Kein Ruf. Kein Schrei. Etwas wie ein abgerissenes Lied.

Zwischen zwei Steinen halb verborgen unter Heidekraut, lag ein junger Falke. Sein Gefieder war noch flaumig, sein rechter Flügel seltsam verdreht. Die Augen blickten wild – nicht aus Angst, sondern aus Stolz.

Luthien ging nicht sofort näher. Sie setzte sich. Ganz still. Wie eine Wurzel die Geduld atmet.

Der Falke starrte sie an, stumm wie ein Vers, den niemand zu Ende gesprochen hatte. „Du hast dich nicht verirrt“, sagte Luthien leise. „Du bist gefallen.“

Das Jungtier hob trotzig den Kopf, doch ein Zittern durchlief seinen kleinen Körper. „Ich weiß, wer du bist,“ fuhr sie fort. „Du gehörst dem Wind. Und der Wind bringt seine Kinder nie umsonst zur Erde.“

Nach einer langen Weile ließ er sich berühren.

Luthien trug ihn wie ein Versprechen zurück zur Lichtung. Sie baute ihm ein Nest aus weichem Moos und Ziegenbartfarn, unter der tiefsten Fichte. Sie sprach nicht viel. Sie sang nur leise – Melodien, die klangen wie aufgehobenes Licht.

Die Tage vergingen.

Der junge Falke, dem sie den Namen Aerion gab – „der, der fallen durfte“ – wurde stärker. Luthien strich ihm vorsichtig den Flügel ein mit Harzsalbe aus Wildkraut, und sie zeigte ihm, wie die Thermik über den Steinen lebt, wie der Wind zwischen den Gräsern flüstert. Aber fliegen lehrte sie ihn nicht. Das tat der Himmel selbst.

Eines Morgens stand Aerion auf der Spitze des Felsenbirnbaums. Seine Flügel glänzten im Morgenlicht. Luthien sah nicht hin. Sie blickte nur in den Wind.

Und dann –

Ein Schlag. Ein Rauschen. Ein Beben durch die Luft, das selbst die Amseln kurz verstummen ließ.

Aerion flog.

Hoch, höher, kreisend, als würde er nicht dem Himmel folgen – sondern ihn erschaffen. Und oben, in der weiten, tanzenden Luft, stieß er einen Ruf aus: stolz, klar und voller Erinnerung.

Luthien schloss die Augen. Sie hörte den Klang. Er war nicht nur Flug – er war Dank.

Und am Abend, als der Himmel sich rosa färbte, kam eine einzelne Feder tanzend zurück zur Erde. Sie landete vor ihren Füßen.

Weiß mit einem Streifen Gold.


Luthien und das Mädchen, das nicht weinte

Es war ein Tag, an dem der Wind unruhig war. Die Wolken zogen schnell, als würden sie vor etwas fliehen, und die Tiere waren stiller als sonst. Selbst der Bach, der sonst nie schwieg, schien zu lauschen.

Luthien spürte es. Etwas Fremdes war im Wald – nicht bedrohlich, aber traurig. So eine Traurigkeit, die nicht laut schreit, sondern leise tropft, wie Wasser von einem Blatt nach langem Regen.

Sie folgte dem Gefühl, barfüßig über den weichen Waldboden, bis sie an den Rand der alten Buche kam, die wie ein Wächter am Lichtungspfad stand.

Dort saß ein Mädchen.

Ihr Haar war zerzaust wie Windgras, ihr Kleid voller Staub, und ihre Augen – groß, blau und weit – starrten in die Ferne, als suchten sie etwas, das nicht zu finden war. Sie war vielleicht acht Jahre alt, vielleicht auch älter – schwer zu sagen, denn sie trug keine Zeit mehr auf der Haut.

Sie hatte keine Tränen. Keine Worte. Nur Stille.

Luthien trat leise aus dem Schatten. Das Mädchen zuckte nicht.

„Ich heiße Luthien“, sagte sie.

Das Mädchen sagte nichts. Sie hob nur den Kopf. Ihre Augen blickten Luthien an, aber sie sahen durch sie hindurch. „Du bist weit gelaufen“, sagte Luthien. Ein Nicken. Fast unsichtbar.

„Wie heißt du?“ Eine Pause. Dann ein geflüstertes Wort, kaum hörbar wie ein letzter Herbstfaden im Wind: „Nimue.“

Nimue war fortgelaufen. Aus einer Welt, die zu laut war, zu grell. Aus einer Stadt voller Stimmen, in der niemand zuhörte. Ihre Eltern hatten gestritten, und niemand hatte bemerkt, dass sie ging. Nur die Stille hatte sie gerufen.

Und der Wald hatte sie genommen.

Luthien sprach nicht viel in diesen ersten Stunden. Sie setzte sich einfach neben Nimue, beide im Moos, unter der Buche, und zwischen ihnen blühte ein Schweigen, das nicht leer war, sondern warm wie ein offenes Nest.

Die Tiere kamen langsam näher: Eine Amsel mit einem Blatt im Schnabel. Ein Igel, der neben Nimues Knie schnupperte. Ein Schmetterling, der sich auf ihr Handgelenk setzte wie ein Atem.

Nimue sagte leise: „Ich kann nicht zurück.“ „Vielleicht nicht heute“, antwortete Luthien. „Aber du bist auch nicht verloren.“

Die Tage vergingen.

Luthien zeigte Nimue den Wald, wie man ein Lied zeigt, Ton für Ton: – Das Gras, das sich bei Wind verbeugt. – Die Pilze, die im Verborgenen leuchten. – Die Sprache der Vögel – nicht aus Lauten, sondern aus Bewegungen.

Nimue begann wieder zu lächeln – nicht laut, aber wie eine Sonne, die sich tastend durch Nebel schiebt. Sie baute ein Moosbett, lernte, Tautropfen zu sammeln, und tanzte eines Abends mit Luthien im Regen, ohne zu frieren.

Am siebten Tag sprach der Wind: „Es ist Zeit.“

Luthien sah Nimue an. „Du darfst gehen“, sagte sie. „Oder bleiben. Aber der Wald wird dich immer hören.“

Nimue schwieg. Dann legte sie ihre Stirn an Luthiens, so wie einst Siri es getan hatte. Ein Abschied ohne Trennung, ein Versprechen ohne Worte.

Am Rand des Waldes wartete eine Frau. Ihre Augen waren rot vom Weinen. Als sie Nimue sah, fiel aller Lärm aus ihr heraus – und nur Liebe blieb.

Sie nahm Nimue in die Arme. Doch Nimue drehte sich noch einmal um. In den Schatten zwischen den Bäumen bewegte sich etwas – leise, ruhig, wachsam. Zwei Augen – eines golden, eines eisblau.

Nimue lächelte.

Seitdem sagen die Kinder in der Stadt: „Wenn du nicht mehr weißt, wohin – such Luthien mit den schönen Augen. Sie hört auch das, was du nicht sagst.“


Der Falke, der den Himmel zerriss


Die Jahre waren vergangen wie Blätter im Wind. Luthien war gewachsen – nicht nur in Gestalt, sondern in Seele. Der Wald vertraute ihr. Der alte Uhu war längst zum Stern geworden, und Brim schlief oft in der Sonne, wie Moos auf einem warmen Stein.

Doch dann kam der Tag, an dem der Himmel sich veränderte.

Nicht plötzlich – eher wie ein leises Verdrehen von Licht. Die Farben stimmten nicht mehr. Die Töne des Waldes klangen... fremd. Der Baum des Gleichgewichts verlor keine Blätter, doch seine Rinde wurde spröde wie getrocknetes Laub. Die Tiere wurden unruhig. Etwas näherte sich – nicht von unten, sondern von oben.

Ein Riss, als würde die Luft selbst brechen.

Luthien stand auf der alten Lichtung, das Gesicht zum Himmel erhoben. Ihre Augen – das bernsteinene und das eisblaue – spiegelten den Spalt im Blau. Aus dem Riss fiel kein Licht, sondern etwas Kaltes, Fernes, das nicht hierher gehörte. Etwas, das vergessen hatte, wie es war, lebendig zu sein.

Da durchfuhr ein Schatten die Wolken.

Nicht schwer, nicht bedrohlich – sondern klar. Schnell. Frei.

Ein Falke.

Sein Gefieder glänzte wie poliertes Kupfer. Seine Schwingen waren weit wie ein Lied, das niemand je ganz erfassen kann. Er kreiste einmal, zweimal – dann stieß er herab wie ein flammender Gedanke, landete mit pochendem Herzschlag auf dem moosbedeckten Stamm.

„Luthien,“ sagte er, und seine Stimme war Wind und Donner zugleich. „Ich bin nicht mehr gefallen. Ich bin geflogen.“

Sie trat zu ihm, ihr Blick ruhig – aber ihre Hände zitterten leicht. „Du bist zurückgekehrt.“

„Um dich zu erinnern,“ sagte der Falke. „Du trägst das Herz des Waldes. Aber du hast es nicht allein zu tragen.“

Dann breitete er seine Schwingen aus – und mit einem Schrei, der durch die Wipfel fuhr wie ein Ruf der Erinnerung, brach der Himmel neu auf.

Aus dem Spalt stürzte keine Dunkelheit mehr, sondern Licht – matt, vorsichtig, aber klar. Der Riss heilte nicht durch Kraft. Sondern durch Mut. Und durch Erinnerung.

An das Fallen. An das Aufstehen. An das Fliegen.


geschrieben vom Kuschelfuchs






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